Kurz vor Ende der Straße ein schäbiger Campingplatz, ein paar Hütten, alles alles andere als attraktiv. Wo sind wir hier gelandet? Doch dann ein Schild "Google Maps is wrong, there is a campground at the end of the road". Okay, ganz am Ende der Straße die angekündigte Fußgängerbrücke über den Copper River, rechts auf einer riesigen Fläche zwischen Kieselsteinen und niedrigem Bewuchs verteilt einige Camper, links plötzlich ein atemberaubender Blick auf schneebedeckte Berge, näher als je zuvor und ein riesiger Gletscher bei blauem Himmel und Sonnenschein, ein großer Parkplatz für day use und eine Hütte zur Visitor Information und Check in für den Campground. Der Informationstyp ist völlig schräg drauf, Covid was a great joke, Joe Biden sei 14 mal geimpft und hätte es trotzdem bekommen ... zu diesen Themen schweigen wir dezent ... den Campground buchen wir direkt für zwei Nächte und erfahren, dass man auch links quasi direkt am Gletschersee mit direktem Blick auf Gletscher und Berge stehen kann, quasi mitten im Talkessel, der durch drei Gebirgszüge begrenzt wird. Einige Camper stehen dort verteilt, aber in Summe ist es eine absolut überschaubare Anzahl, die dem Ganzen etwas sehr Verbindendes von Gleichgesinnten verleiht. Als erstes gehen wir direkt an den See, schauen auf den wirklich gigantischen Gletscher, der im unteren Teil schwarz und braun ist von dem ganzen Geröll und Kies, den er so mitschleppt, und je weiter der Blick weg geht, desto sauberer, weißer wird er, das Eis immer sichtbarer. Absolut spektakulär. Vom Gletscher und vom See kommt ein deutlich kühlerer Wind und es ist total leise. Stille.
Obwohl es schon recht spät ist, aber halt wie immer noch hell, beschließen wir noch rüber in den Ort McCarthy zu laufen. Der einzige Weg dorthin geht über den Copper River über die Fußgängerbrücke und dann noch einen knappen Kilometer weiter auf der Straße, die aber eben öffentlich nicht befahrbar ist, sondern nur von den locals genutzt werden darf. Schon die Fußgängerbrücke ist ein nett gemeintes Zugeständnis. Vor ein paar Jahren gab es nur eine kleine, offene Seilbahn, bei der man sich mit der Hand am Seil entlang auf die andere Seite ziehen musste. Schade, dass es nun anders ist. Immerhin haben die locals sich bisher erfolgreich gegen eine Asphaltierung der McCarthy Road und eine Autobrücke über den River gewehrt.
Auf der anderen Seite der Brücke eine Bushaltestelle für einen Shuttlebus in die Stadt und Handwagen für Gepäck. Wir laufen, der letzte Bus ist heute eh schon gefahren.
Nach einigen hundert Metern passieren wir die Trinkwasserquelle des Ortes, dann kommt ein Holzschild, mit dem der 1/4 Cut Off nach Mc Carthy ausgeschildert ist. Durch ein sumpfiges Waldstück erreichen wir die "Stadt" quasi durch die Hintertür und fragen uns erneut, wo in aller Welt sind wir hier gelandet? Holzhütten und -häuser in allen denkbaren Zuständen, teilweise wie Kulissen einer Westernstadt, ein Hotel, ein Saloon, ein Store, alte Autos überall und auch in allen Zuständen - und zwischen und in all dem Live-Musik eines Gitarristen in einem halboffenen Zelt und - Leben. Echtes, richtiges, authentisches Leben. Also, Keno war wirklich cool, aber eben eine Living Ghost Town, Dawson war wirklich cool, aber eben eine alte Stadt, deren Flair irgendwie bewusst und doch künstlich bewahrt wird, Chicken war wirklich cool, eine Goldsucher-Ministadt, die irgendwie auch eine eigene Form von Authentizität hatte, aber Mc Carthy ist einfach so, wie es ist, echt - und vollkommen krass. Nach einem kleinen Rundgang kehren wir im Saloon ein, sitzen auf der riesigen Terrasse und werden Teil des aktuellen Mc Carthy Lebens. Der Gitarrist macht gute, wenn auch sehr laute Musik, bedient werden wir von einem schwarzen Piraten mit Bart und diversen Ohrringen, der über seinem Tanga ein stark geschlitzten, durchsichtiges, schwarzes Kleid trägt. Der Mann ohne Schneidezähne mit grauem Pferdeschwanz, einer in einem Batik-T-Shirt mit Vollbart und einer mit Hut, dessen graue Haare und Vollbart kreisrund seinen ganzen Kopf einrahmen, sind wie einige andere sofort als Locals und irgendwie auch als Originale erkennbar. Doch die Grenze zu den Touristen ist fließend und einige sind wohl auch nur die vier Monate Sommer über in der Stadt. Die Kollegin unseres Piraten trägt einen hautengen Leopardeneinteiler. 43 Einwohner hat McCarthy, der Ort ist nur während der vier Sommermonate geöffnet, im Winter, also die restlichen acht Monate, leben die Locals unter und für sich, die meisten ohne fließendes Wasser und ohne Elektrizität. Eine Aussteiger-community, wie man sie sich besser nicht ausdenken kann.
Auf der Speisekarte gibt es für die Abgelegenheit des Ortes eine interessante Auswahl, Steak, Burger und eine Pommes-Chili-Kombination wissen absolut zu überzeugen und sind auch nicht (noch) teurer als anderswo in Alaska. Das Essen tut gut und schmeckt lecker, aber am besten ist es dabei tatsächlich, Teil dieses völlig unkonventionellen und gechillten Lebens zu sein und einen wohl unvergesslichen Abend zu erleben.
Auf halbem Weg zurück zur Brücke nutzen wir die Outhouses, die wesentlich sauberer und ordentlicher sind als das eine auf dem Campingplatz und kehren über die Brücke, die wie eine Art Schwelle ist, zurück in unsere Realität - zumindest ein Stück mehr. Am Gletschersee lauschen wir noch ein Weilchen der magischen Stille und hören auch dem Gletscher zu, wie er mit lautem Knacken, Gurgeln und Donnern reißt und fließt. Wer hier nicht von der Existenz des Gletschergottes oder des Geistes des ewigen Eises überzeugt wird, dem ist nicht mehr zu helfen. Einige Stunden später verstärken rotes Licht und rote Wolken die Mystik des gesamten Szenario, das sich nun auch noch im glatten See spiegelt, so dass endgültig alle Grenzen fließend werden.